WaltysWebSite

INTERNET-MAGAZIN              zurück

 

 

 

Die Winterreise, Teil 1

Zitat: "Es gibt eine Vereinsamung, die über tränenschweren Weltschmerz hinaus in die Nähe geistiger Umnachtung weist."


Aus der Schubert-Biographie von Cedric Dumont, Georg Westermann Verlag, Braunschweig und Ex Libris Verlag, Zürich (für die Schweiz), 1978


Brief eines Verlegers:


"Für die Zusendung Ihres Manuskriptes "Die Winterreise" danke ich Ihnen herzlich. Leider sind wir zur Veröffentlichung nicht der geeignete Verlag. Trotzdem möchte ich Sie dazu ermuntern, andere Verlage anzuschreiben, denn ich habe den Eindruck, dass Ihre Erfahrungen wohl für viele Menschen, die unter ähnlichen Umständen, weitab vom Verständnis der "Mit"-Menschen, hoffen und bangen auf eine lebbare Zukunft, eine echte und wertvolle Hilfe sein kann. Ich bin der Überzeugung, dass jeder Zeitgenosse in sich Abgründe vermutet bzw. spürt, die ihn ängstigen. Deshalb wohl auch die abweisende, rein technische "Hilfe", die nicht die Hilfe Suchenden, wohl aber deren Ratgeber vor den drohenden Abgründen schützt. - Ganz zum Schluss des Manuskriptes weisen Sie kurz auf Novalis hin, dessen Leben im Grunde Hoffnung und Freude ausstrahlt. Dieser Hinweis ist sicher sehr berechtigt und auch notwendig, denn gerade darin liegt m.E. mit eine Ursache der gegenwärtigen grossen Verzweiflung vieler sensibler Menschen; nämlich das Bewusstsein des Scheitern-Könnens, fundamental und endgültig. Zugleich ist dies eine Wahrnehmung des Hässlichen als einer enttäuschten Hoffnung auf das Schöne, die wohl jeden Menschen als keimhafte Anlage mit auf die Erde begleitet. -
Ich würde mich freuen, wenn ich Ihre Aufzeichnungen eines Tages in Buchform entdecke und hoffe sehr, dass Sie meine Entscheidung verstehen (P.Gm.)."


Für meine Lebensgefährtin


Die Worte von Verleger P.Gm. haben mich in der Tat ermutigt, diese meine Geschichte in Buchform herauszugeben, nachdem sie bereits in drei Zeitschriften Teile davon erschienen sind.. Sie erzählt von meinen Sehnsüchten nach der Blauen Blume, nach Verständnis, Anerkennung und - Liebe.
Heute werden durch die elektronischen Medien nicht wenige Serien und Fantasien verbreitet, die sich grosser Beliebtheit erfreuen, die sich jedoch meines Erachtens durch ein verzerrtes Bild des menschlichen Lebens auszeichnen. Allzu kontruiert werden Lebenssituationen dargestellt, bar jeglichen echten seelischen Empfindens.
Die "Winterreise", die ich nun Dir widme, soll gewissermassen ein kleines Gegenstück zu besagten Fernsehproduktionen darstellen; es ist eine bunte, schreckliche, lustige, tragische, chaotische und geordnete "literarische Collage", die vernünftig und unvernünftig, in grossen und in kleinen Worten, stilistisch klar, dann wieder stammelnd, nach Antworten nach dem Sinn des menschlichen Lebens sucht.
Sie enthält indessen auch Beschreibungen von lebensbedrohenden Extremsituationen, in denen es nicht leicht ist, beschreibende Worte zu finden. Ich habe mich indessen bemüht, um der Wahrheit willen diese dunklen Bezeugungen auch zu berücksichtigen. Gerade diese Aspekte zeigen, dass die "harte", "nackte" Wirklichkeit ebenso faszinierend und romantisch sein kann wie eine Fantasy. - Mit "romantisch" meine ich nicht süssliche, kitschige Klischees, sondern vielmehr eine gefühlsbezogene, poetische Lebenshaltung, die im Bereiche des emotionalen Denkens anzusiedeln ist.

In ewiger Liebe, Dein W.M.W.

 


Die Winterreise


Lied: Der Lindenbaum


Am Brunnen vor dem Thore, da steht ein Lindenbaum;
ich träumt' in seinem Schatten so manchen süssen Traum,
ich schnitt in seine Rinde so manches liebe Wort,
es zog in Freud und Leide zu ihm mich immer fort.


Ich musst' auch heute wandern vorbei in tiefer Nacht,
da hab' ich noch im Dunkeln die Augen zugemacht.
Und seine Zweige rauschten, als riefen sie mir zu:
komm' her zu mir, Geselle, hier find'st du deine Ruh.


Die kalten Winde bliesen mir grad' in's Angesicht,
der Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht.
Nun bin ich manche Stunde entfernt von jenem Ort,
und immer hör' ich's rauschen: du fändest Ruhe dort!


Aus: Schubert-Album, Leipzig und Berlin, C.F. Peters, Bureau de Musique/W. Müller, F. Schubert, Op. 89

 



Klinik W., anfangs September, Brief an JP


Lieber JP, Anette hat sich von Dir getrennt, eine Tatsache, die mich nicht wenig beschäftigt. Nun bist Du allein in Deinem grossen Haus, wo früher einmal reges Treiben herrschte: Deine Eltern, die stets um Dein Wohl besorgt waren, Deine Schwester, mit der Du Deine Rezitationen einstudiertest. Und schliesslich Anette, die eigenwillige Pianistin, mit der Du manchen Musikabend sehr zur Freude der Zuhörer gestaltetest. Ich kann gut nachfühlen, wie jetzt die Leere auf Dich wirken muss: niederschlagend, tödlich - Nur Dein Hund hält Dir die Treue, wie Du mir schreibst. Ich denke da unwillkürlich an die Erzählung "Effi Briest" von Theodor Fontane, wo auch von Treue, Einsamkeit und von einem Hund die Rede ist, wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang. Während ihres seelischen und körperlichen Leidens hat der Hund der unglücklichen Frau Effi Briest die Treue gehalten. Der Hund, der sie kannte, der an ihr hing und der selbst nach ihrem Tode noch lange über ihrem Grab wachte. Man könnte, wie Vater Briest, sagen: "Es ist eben die Treue der Kreatur." -
Nun - immerhin kannst Du auf eine schöne Zeit mit Anette zurückblicken. - Dein Beruf, Deine Oboe, werden Dir über Deine momentanen Schwierigkeiten hinweghelfen. Ich würde Dich gerne einmal besuchen, doch dies wird wahrscheinlich nicht mehr möglich sein - Auch ich habe so meine Probleme - Diese Zeilen erreichen Dich nämlich aus der Psychiatrischen Universitätsklinik W. in B. Ich komme mit meinem Leben einfach nicht mehr zurecht. Sicher haben Anette und Du bemerkt, dass ich stets mit psychischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte: Depressionen, Angstzustände, Wahnvorstellungen. Was ihr indessen wohl kaum bemerkt habt, war mein Drogenkonsum, mit dem ich versucht habe, mein Allgemeinbefinden zu heben und meine Störungen etwas zu lindern. Es hat ja auch geklappt, während Jahren, bis vor kurzem. Ich stellte plötzlich fest, dass ich - oder besser gesagt, es kam mir zum Bewusstsein, dass ich nur noch unter Drogen kreativ tätig sein konnte, dass ich nur noch unter dem Einfluss von Tabletten, Codein, Hasch und Alkohol an mich glauben konnte. - Fehlten mir diese Stoffe, so kam ich mir wie ein "Zombie" vor, wie ein wandelnder Leichnam, dem die Seele, die innere Spannkraft, das Leben schlechthin, fehlte. - Nach labyrinthischen Umwegen meldete ich mich schliesslich freiwillig in der Klinik. - Ich hoffe, wenn man mir helfen könnte, meine psychischen Störungen und Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen, dann würden auch die verschiedenen "Sehnsüchte" verschwinden. - Nun, lieber JP., ich weiss nicht, ob und wann ich diese Räume verlassen kann. - In nächster Zeit wahrscheinlich nicht. Liebe Grüsse, Dein W.M.


Stimmungsbild: auf der aufnahmestation


schreie durchlöchern wände von stein, unheimlich dringt es durch mark und bein,
graue tropfen tränenschwer fallen, die schauerlich durch grotten hallen.
ich fühle gestalten, dick, hager und bleich, wirre blicke, erstarrt, hart und weich;
ein toller reigen tanzt geziert, nun bist du da, wo matto* regiert.
*Anspielung auf den Kriminalroman von Friedrich Glauser: Wo Matto regiert.


Aufzeichnung: Aus dem Tagebuch


Jetzt bin ich dort, wo ich niemals zu sein wünschte. Ich dachte, lieber zu sterben als mich in diese furchterregende Welt zu begeben. Und nun bin ich da und dies noch freiwillig. - Wir sind Patienten mit verschiedenen seelischen Krankheiten und verschiedenen psychischen Störungen. Mehr jüngere Leute. Es hat auch ältere, aber die sind in der Minderzahl. -
Ich befinde mich etwa in der Mitte, was das körperliche Alter betrifft. Hinsichtlich Reife fühle ich mich eher den Jungen zugehörig. Neben zwei sogenannten Schizophrenen hat es einige Patienten, die an manisch-depressiven Zuständen leiden. Sie müssen Lithium schlucken. Heute abend sprach mich eine junge Frau mit grossen, braunen Augen und langem Braun-rötlichem Haar an. "Du erinnerst mich an meinen Mann", sagte sie und begann zu weinen. "Mein Kind, was wird aus meinem Kind? - Mein Mann ist Journalist. Er hat eine neue Stelle in Genf in Aussicht. Aber nun meine Krankheit! Ich bin schon das dritte Mal hier in der Klinik. - Wenn es nur etwas nützen würde. - Ich will nach Hause zu meinem Kind", seufzte Isabelle - Sie wurde zusehends müde und verabschiedete sich bald.
Da war Andreas, einer der Jüngsten, auch er ein immer wieder zurückkehrender Gast. Er hatte viele Ideen, das gemeinsame Leben hier in der Wohngemeinschaft interessanter zu gestalten. Einmal in der Woche war Tanzabend, einmal gemeinsames Spiel, dann wieder Schwimmen im Hallenbad der Klinik. -
Andreas schrieb auch Gedichte, schöne Gedichte von ansprechender Ausstrahlungskraft. -
Da war Pia, die kleine sogenannte Schizophrene, die mit mir Schach spielte- und dies etwa gar nicht schlecht. -
Je nach Optik überkommt mich hin und wieder ein entsetzliches Grauen: so weit hast du es also nun gebracht, du mit deinen verrückten Ideen, mit deinem Wahn!
Betrachte ich mein bisheriges Leben, unruhig, zerfahren, einmal auf der Bank eines Hörsaales der Uni in B., dann auf der Kanzlei des Fürsorge- und Vormundschaftsamtes, dann als Werbechef in einem renommierten Verlagshaus, dann als Geländerwichser im Strandbad, als Hilfszimmermann im Dienste der Stadt, als Journalist und Reporter, der mit Block und Kamera durch Stadt und ländliche Gefilde eilt, als Redaktor, der die Beiträge für die Lokalzeitung redigiert. Ich, der Mystiker, Parapsychologe, der Religiöse, der Atheist, der Extreme, der Kleinbürger; ich, aus dem niemand so recht klug werden wollte oder konnte; ich, der Süchtige - süchtig nach Erkenntnissen, süchtig, das zu ergründen was "die Welt in ihrem Innersten zusammenhält".....
Wenn ich "Suche" mit "Sucht" in Verbindung bringe und umgekehrt, dann kommt mir der Aufenthalt in der Klinik etwas sinnvoller vor, ja, als erneute Chance.
Zwei Aspekte beschäftigen mich: bin ich hier an der Endstation? - Oder bin ich hier nur vorübergehend an der Pforte der Nacht, wo es gilt, sich den dunkleren Mächten nun an vorderster Front zu stellen? - Komme ich je einmal zur Ruhe, ich, dessen bisheriges Leben, vor allem das innere, wie eine lange, bewegte Reise war?

 


(Winterreise, Teil 2)

 

zurück