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Die Winterreise, Teil 2
Anhang Tagebuch: für pia, die kleine draussen glitzert noch und noch würd' gern mich freuen noch. - der tag zerbricht im
Klinik W. in B., Ende September, Brief an die Mutter Liebe Mutter, wohl oder übel muss ich einige Wochen hier bleiben. Das Suchtproblem hat sich als gravierender erwiesen, als ich mir eingestehen wollte. - Jetzt haben sie, die Ärzte, etwas Konkretes, worauf sie alle Übel zurückführen können. - Und trotzdem sage ich, wie zu der Medizinstudentin, die mich betreut, dass mein Grundübel im misslungenen Theologiestudium, in den Bereichen des Lebens, in denen ich zu kurz gekommen bin, zu suchen ist. In einer gewissen Weise bin ich zu kurz gekommen: Echte Freundschaften hatte ich nie, weder mit Kollegen noch mit Frauen. Die so entstandene Leere suchte ich mit Religion, mit geistigen Beschäftigungen auszufüllen. Mit Musik, mit Philosophie. - Und wieder stehe ich vor einem Scherbenhaufen. - Blut- und Urinproben haben wissenschaftlich bestätigt, dass ich an Polytoxikomanie leide und dass meine Leber bereits erheblich geschädigt sein soll. "Sie haben nun wirklich den kritischen Punkt erreicht, möglicherweise bereits überschritten", sagte der Assistenzarzt. - Ich erhalte nun keine Medikamente mehr, weder gegen die depressiven Zustände noch gegen Schlafstörungen. Keine Tranquilizer mehr - "Wir stoppen einmal alle Medikamente und schauen, was passiert", sagte Marianne K., die Medizinstudentin. Möglicherweise kommt dann später etwas zum Vorschein, das im Moment nicht eindeutig festgestellt werden kann; und wenn dem so wäre, so sind Sie hier ja am richtigen Ort, wo man derartige "Symptome" effizient behandeln kann." Ich erklärte mich vorerst mit diesem Therapiekonzept einverstanden: vorerst einen chemiefreien Körper, und dann die Psyche - Bei allem Verständnis für die Optik der Mediziner kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren, dass man nun die Weichen so gestellt hat, sich mit grossem Engagement dem Vordergründigen und Augenfälligen zu widmen; damit man sich noch (längere Zeit) nicht um die Sucht verursachenden Probleme kümmern muss. - Es bereitet mir doch etwas Mühe, ohne Chemie auszukommen. Aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht. - Der Assistenzarzt ist mir nicht so recht sympathisch. Er verfährt, so scheint es mir, nach einer modernen Methode, wonach man einen Patienten vorerst vollkommen zerschlagen muss, so lange und so weit, bis er nicht mehr aufsteht - oder bis er eben erst recht und gestärkt aufsteht. Die Medizinstudentin, die doch mehr Verständnis für mich aufbringt, stimmt nun auch in diesen Gesang ein: "Sie sind ein primitiver Alkoholiker, ein Süchtling!" Passiere nun, was wolle, liebe Mutter, ich wollte dir nur noch einmal sagen, dass ich von dir viel Positives erfahren habe. Mein unkonventionelles Wesen hat dich und Vater überfordert..... Sobald ich Näheres über meine Zukunft weiss, so schreibe ich dir oder telefoniere. Liebe Grüsse, W.
Vergegenwärtigung (vor einigen Monaten): Ich schrecke auf aus einer tiefen Betäubung. In meinen Schläfen hämmert es dumpf. - Es ist Morgen, zehn Uhr. - In der Bettumrandung finde ich leere Packungen von Tabletten und Fläschchen von Hustentropfen.....leere Weinflaschen.....auf dem Balkon Zigarettenasche. - Was geschah gestern? - Die beiden Wildtauben, die in der Tanne in einem der Gärten an unserer Strasse ihr Nest haben, sitzen auf dem Draht der Strassenlampe. Sie nähern sich, plustern sich auf und wärmen sich gegenseitig. - Diese "Optik", dies Ein-Stellung, mag man sie auch als kitschig und sentimental bezeichnen, löst in mir melancholische Schübe aus, die mich in die Pubertät, dann auch in die frühere Kindheit zurückführen. - Ich schlucke Tabletten, trinke Wein..... Langsam durchströmen mich andere Gedanken, die Tauben, sie werden unbedeutend, ein Stück Natur..... Ich fühle neue Kräfte in mir, obwohl der Körper langsam schläfrig wird.-
Septembermorgen: "Wir müssen bei Ihnen eine Leberautopsie vornehmen. Erst dann können wir sagen, wie es um ihren Gesundheitszustand bestellt ist", sagt Assistenzarzt H. "Ja, und es schmerzt nicht", räumt Marianne K., cand. med., ein. "Ist es etwa die akute gelbe Leberatrophie?" frage ich die Heilkundigen. - Sie antworten nicht, starren ein Loch in die Wand. "Ich meine, ist es der akute Leberschwund, wie er im Volksmund auch genannt wird?" frage ich andersherum. "Soviel ich weiss, macht man dies nur im allerletzten Moment, das heisst, kurz vor dem Tode!" Die Mediziner starren ein Loch in die Decke. - Pause. --- Pause. ---- "Sind Sie damit einverstanden?" fragt Assistenzarzt H. "Ja ist es denn wirklich unbedingt nötig?" frage ich. Die Heiler starren ein Loch ins Fensterglas. "Dies kommt überhaupt nicht in Frage! - An meinem Körper wird nichts gemacht, weder vorher noch nachher!" Beim Wort "nachher" schiesst es Marianne K. rot ins hübsche Gesicht. "Man würde es nur für Forschungszwecke....." Mariannchens Gesicht wird rot und röter. "Hören Sie, sagen Sie es mir, damit ich mich entsprechend danach richten kann. - Wenn das Schlimmste befürchtet werden muss, so......." "Wir können Ihnen nichts sagen. Die Leberautopsie würde Klarheit schaffen", sagt H. ......................... "Damit bin ich überhaupt nicht einverstanden, nie und nimmer!", sage ich. ..................... Schweigen..................Schweigen.............. "Die Konsultation ist beendet", sagt der Assistenzarzt.
Septembernachmittag (I) Neurotica eis wird zur
Septembernachmittag (II) Schwester Rosmarie misst den Blutdruck. - Reine Routinesache. - 190 auf 95. - "Schon etwas ungewöhnlich", sagt sie. "Wenn er nun 200 überschreiten würde, müssten wir etwas tun!", fügt sie noch bei. - Rasende Kopfschmerzen und starkes Herzklopfen sowie eine unbehagliche innere Spannung lassen mich Schwester Rosmarie fragen, ob ich nicht einen kleinen Spaziergang auf dem Areal der Klinik machen dürfe. - Sie betrachtet mich etwas misstrauisch. - "Ja, ich weiss nicht so recht", sagt sie. "Wollen Sie sich nicht hier im Aufenthaltsraum etwas erholen? - ... - Ja also, gehen Sie, aber verlassen Sie das Areal nicht. Und kommen Sie noch vor dem Abendessen zurück!" - Sie öffnet mir die Tür der Wohngemeinschaft "Aufnahmestation". - Draussen ist es drückend heiss, zu schwer für die Jahreszeit. - Unheimlich pocht und hämmert mein Herz. - Die rasenden Kopfschmerzen lassen mich vorsichtig der Einfahrt zur Klinik entlanggehen. "Soll es schon zu Ende mit mir sein?", ruft es noch und noch in mir. - Ich wiederhole immer wieder die Worte von Dr. H.: die Leberautopsie, die sich aufdränge, den kritischen Punkt, den ich erreicht oder schon überschritten habe. - Immer und immer wieder sehe ich vor mir den Assistenzarzt und die Medizinstudentin. - Bei jedem Schritt bohren sich scharfe Messer in mein Gehirn. - Ich weiss, dass ich es mit all den Giften zu bunt getrieben habe. Aber ein Leberleiden mit tödlichem Ausgang habe ich nicht erwartet. - Ich wandle an Menschen vorbei, an Patienten, Besuchern. - "Hallo, Walter, heute Abend ist Tanz bei uns. Vielleicht reicht es dennoch für eine Partie Schach." - Es ist Pia, die von der Beratungsstelle in der Stadt zurückkommt. Ich hätte sie nicht erkannt. - Ich lächelte ihr nur zu und ging weiter. "Napoleon", der Mann mit dem Uniformen-Tick, arbeitet im Exerziertenu in den Anlagen. Er grüsst freundlich. - "Du bist nicht todkrank", denke ich, die Ärzte wissen um deine Neigung zur Hypochondrie und wollen diese deine Schwäche therapeutisch dazu nutzen, dass du keine Drogen mehr nimmst." Diese Betrachtungsweise fasst allmählich in mir Fuss. Um dann wieder von Todesängsten dominiert zu werden. Der innere Kampf zwischen den Gedanken Heilung - Leben und Krankheit - Tod war lanciert. - Bei jedem Schritt bohren sich scharfe Messer brennend in mein Gehirn. In mir pocht und hämmert es, hallt es unheimlich. Körper und Seele sind zum Labyrinth ohne Ausgang geworden.
Septembervorabend Schwester Rosmarie lächelt freundlich, als sie mir die Tür öffnet. "Fein, dass Sie schon zurück sind", sagt sie. "Pia hat das Schachspiel bereits aufgestellt." - Ich strenge mich an. Ich will, für den Moment wenigstens, alles vergessen. Ich will spielen. - Ich betrachte Pia, ihr hübsches Gesicht. - Schweissperlen zeigen sich auf ihrer gewölbten Stirn. - Ihre Gesichtszüge verändern sich leicht - Es scheint mir, als ob sich ein "Schub" vorbereite. Und plötzlich ist mir, als ob ich in sie hineinsehen könnte, in ein furchterregendes Chaos, in einen Wirrwarr, in ein tobendes Meer, das immer und immer wieder das gewonnene Kulturland überflutet. - Mir wurde klar: wie schaffst du es bloss, gegen diese Fluten anzukämpfen, du, eine junge, kleine, äusserlich schwächliche Frau? - Die anderen haben ja keine Ahnung, wo du manchmal bist. - Wie könnte man ihr helfen? - Sie mit Medikamenten betäuben - An ihre Türe schreiben: "Ich und nur ich allein bin für all mein Denken, Fühlen und Tun verantwortlich", wie es übrigens ihr Arzt angeordnet hat. - Ich sehe hier das aufgebrachte, tosende Meer, in welchem Pia unterzugehen droht. Und ich denke an ihren Arzt mit seinen Vorstellungen über ihre Krankheit. Er verschreibt Medikamente, gibt Ratschläge, placiert Bemerkungen..... Man muss sie gern haben, sie lieben, versuchen, ihr Wärme zu geben - So könnte man ihr am ehesten und wirksamsten helfen - Über meinen Gedanken habe ich das Schachspiel so nebenbei betrieben und nicht bemerkt, dass ich ins Patt glitt.
Septemberabend Alles tanzt. Ich tanze mit Isabelle, dann mit Pia; selbst Maria, die sonst abwesend durch die Räume der Wohngemeinschaft wandelt, tanzt. - Tanz der Verzweiflung. - Die jüngere Frau, die eben erst eingewiesen wurde und vor kurzem noch Medikamente nehmen musste, sitzt da und schaut interessiert dem Treiben zu. Plötzlich steht sie auf, kommt auf mich zu. Sie wolle auch tanzen, sagt sie. - Sie klammert sich an mich. Ihre Nähe weckt in mir eine Fülle angenehmer Gefühle: Hoffnung, Lust, Leben - Immer wieder will Jacqueline mit mir tanzen. Sie ist französischer Muttersprache. - Ich nenne sie "Blache-Neige", worauf ihre schwarzen Augen immer beglückt aufleuchten. - Unter die Gefühle der Lust, der Lebensfreude, mischt sich plötzlich ein schleichendes Unbehagen. Das Gespräch mit Dr. H. gewinnt die Oberhand. - Ich verstumme. - Wie kannst du nur so tanzen im Hinblick auf deine finsteren Zukunftsaussichten, flüstert es in mir. - Der "Bal aux champêtres" nimmt unheimliche, beängstigende Dimensionen an. Ich halte es plötzlich nicht mehr aus. - Etwas abrupt verabschiede ich mich - "Blanche-Neige" kannst nicht begreifen. Ich lege mich schlafen. - Manfred neben mir spricht wie immer im Schlaf. Gregor zu meiner Linken schnarcht bereits in allen Tönen. - "Nun, versuchen wir, es durchzustehen", sage ich mir.
Septembernacht Ich kann nicht schlafen. Alle 15 Minuten höre ich die Glocke der kleinen Kapelle, die zur Klinik gehört und wo an Feiertagen jeweils Gottesdienste abgehalten werden. - Um mich herum atmet und schnarcht es - Ich denke über meine Zukunft nach. Immer wenn ein Auto auf der fernen Landstrasse vorbeifährt, zeichnet ein Lichtkegel im grossen Schlafraum seine Bahn. Die Schatten der Birkenblätter zittern nervös. - Ich drehe mich nach links und nach rechts. - Den Schlaf kann ich einfach nicht finden. - In meiner Fantasie werden Geräusche auf befremdende Ebenen gehoben: Die Glocke der Kapelle hallt unnatürlich laut, als ob sie zum Jüngsten Gericht rufen würde. Der Motor eines Mopeds tönt wie ein blechernes Blasinstrument. Und der Atem meiner Mitbewohner hört sich manchmal wie das Zischen eines Ungeheures, vieler Ungeheuer, an. - In der Mitte der Decke befinden sich Rauchriecher, welche beim geringsten Rauch Feueralarm auslösen. - Diese schwarzen Vorrichtungen mit glänzenden Metallzylindern beginnen sich für mich plötzlich zu drehen. Insbesondere, wenn Licht durchs Fenster fällt. Ich glaube, Strahlen zu erkennen; Kameras, denke ich, technische Augen, die uns überwachen. - Mir ist sehr unbehaglich. Plötzlich durchdringt der schauerliche Schrei einer Frau die dumpfe, feuchte, drückende Nacht. - Ich höre Schritte. - Dann abermals dieser Schrei, der durch Mark und Bein dringt. Ein Gegenstand fällt dumpf gegen die Wand und purzelt durch den Gang - so jedenfalls höre ich es. - Schnelle, polternde Schritte. - Jetzt fassen sie sie an, denke ich. Wieder der entsetzliche Schrei, dann das Öffnen und Schliessen der Badezimmertür. - Gedämpfter Schrei, wie aus weiter Ferne. - Ich stelle mir vor, dass diejenigen, deren Schritte ich gehört habe, der Frau ein Leid antun wollen. - In mir fühle ich einen kaum bezähmbaren Hass, eine Wut gegen die PflegerInnen. - Da höre ich, wie ein Schrank, der Medikamentenschrank, geöffnet wird. - Wahrscheinlich wird die Frau nun in ein Einzelzimmer gebracht. Es sind Schritte zu vernehmen, dann gedämpfte Stimmen. Oben, wo Wand und Decke sich berühren, sickert spärlich Licht durch. - Ich sehe wieder, wie der Rauchriecher - die Kameras, die technischen Augen sich drehen. - Ich versuche zu schlafen. - Doch das Fehlen der Tabletten bereitet mir nicht wenig Unbehagen. Mein Körper, die Glieder, fühlen sich schwer an und langsam wird mir übel. Kopfschmerzen stellen sich ein, dann ein Brummen im Schädel. - Ich kann nicht schlafen. - Alle 15 Minuten höre ich die Glocke der kleinen Kapelle, die zur Klinik gehört und wo an Feiertagen jeweils Gottesdienste abgehalten werden. - Um mich herum atmet und schnarcht es. - Ich denke über meine Zukunft nach. -
Dunkler morgen Jede nacht hat einen morgen.
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