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Die Winterreise, Teil 3

 

Dialog anlässlich eines Therapiegespräches mit der Medizinstudentin M.H., Vormittag

W.: Was war gestern eigentlich los? -

M.H.: Fräulein Pia H. hat einen Schub erlitten. -

W.: Aber ich habe doch mit ihr gestern Abend noch eine Partie Schach gespielt! - Und dann habe ich auch noch mit ihr getanz. - War all das vielleicht zu viel für sie?

M.H.: Ich glaube nicht - das kann manchmal rasch und unerwartet kommen.

W.: Wie ich Ihnen schon sagte, habe ich früher einmal auf der Vormundschafts- und Fürsorgebehörde gearbeitet und bei dieser Gelegenheit oft die langen Krankenge schichten eingehend studiert. Nicht aus Neugier, sondern, um zu erfahren, wie es mit den Heilungs aussichten psychischer Krankheiten steht. - Verglichen mit damals hat man heute einen Schub doch schneller im Griff.

M.H.: Es mögen vielleicht schon gewisse Fortschritte vorlie gen. Es sind aber vor allem die Medikamente, die heute doch wirksamer sind als damals. Auch kommt es auf den Grad des Schubes an. Oder wie man dem auch immer sagen will.

W.: Weiss man eigentlich heute Genaueres über die Schi zophrenie?

M.H.: Es gibt neuere Theorien, zum Beispiel diejenige, dass es sich um ein Gewitter im Gehirn handelt, der diese Störungen auslöst - nun, diese Krankheit wird vererbt. -

W.: (Ich sage nichts, denke aber an die amerikanischen Forschungsergebnisse, die besagen, dass man Schizo phrenie auch während dem Leben erwerben kann.)

W.: Was kann man dagegen tun? - Tabletten schlucken. - Dann was noch?

M.H.: Man weiss heute noch zu wenig über diese Krankheit, um sie in allen Stadien wirksam bekämpfen zu kön nen.

W: Könnte diese Krankheit alle treffen?

M.H.: Nicht wenig Ärzte sind der Auffassung, dass Schock erlebnisse in der Kindheit dafür verantwortlich sein könnten. Wenn nun jemand übersensibel und psychisch bald einmal überfordert ist, so können spätere negative Erlebnisse zu diesen Symptomen und den schrecklichen Halluzinationen und Wahnvorstellungen führen. - Ja, es könnte unter Umständen auch Menschen treffen, die eigentlich erblich nicht dazu präde stiniert wären.

W.: Wenn ich fragen darf, welche Richtung verfolgen Sie nach dem Studium? - Beabsichtigen Sie, in der Psych iatrie tätig zu sein?

M.H.: Um Gottes Willen, nein. - Am meisten interessiert mich die Allgemeinpratik.

 

 

Gespräch mit Pia H., die den Schub erlitten hat

W.: Du, ich setze mich ein wenig zu dir. - Wie geht es eigentlich? -

Pia H.: Etwas besser.

W.: Du musst nicht denken, ich sei indiskret oder frech - aber wa hast du letzte Nacht erlebt?

Pia H.: - Ja, weisst du, das ist so: Ich erlebe die Anfälle immer so, als wenn es jemand anders wäre, der schreit, der um sich schlät, der Gegenstände wirft. - Mir ist so, als würde ich von aussen gelenkt!

W.: Weisst du, ich kann dich eigentlich sehr gut begreifen, weil ich es dir nachfühlen kann. - Ich hoffe nur, dass du nicht wegen des Schachspielens und Tanzuens diesen Anfall erlitten hast. -

Pia H.: Mach dir deswegen keine Sorgen. - Schach spielen und tanzen bereiten mir Freude. - Nein - ich war gestern nachmittag früh bei der Beratungsstelle für Schizophrene. Dort habe ich mit Betreuern meine Zukunft besprochen. - Die Leute waren sehr nett, aber es ist möglich, dass mir all dies unbewusst zu schaffen macht. - Sie haben mir gesagt, dass es empfehlenswert wäre, wenn ich ins "Stöckli" hinüberziehen würde und von dort her zur Arbeit ginge. - Das "Stöckli" ist ein Übergangsheim, der Klinik angegleidert, wo man noch die entprechende Betreuung und Beratung hat.

-

Spielst du heute abend wieder mit mir eine Schachpartie?

-

W.: Wenn du magst und nicht allzu erschöpft bist, ja doch, gerne. Es lenkt uns beide ab. - Weisst du, ich habe es auch nötig, mich etwas zu zerstreuen, sie haben mir gesagt, mit meiner Leber sei es nicht zum Besten bestellt und ..... .......................

 

 

Spontane Meditationen, im Tagebuch festgehalten

Was es nicht alles für Leiden gibt, denen der Mensch ausgeliefert ist. Menschen wie Pia, deren Leben grösstenteils aus Ängsten und Nöten besteht, lassen die Frage nach Gott als überflüssig erscheinen. Besonders hier in der Klinik kann man sich nur fragen: warum? - Oder man fragt sich überhaupt nicht mehr, weil man resigniert. Weil man alle Hoffnungen und Illusionen in den Wind geschlagen hat. - Es ist seltsam, aber seit ich hier in der Klinik bin, erinnere ich mich immer öfter an die Zeit, als ich in B. Theologie studieren wollte. Die Septembersonne, nicht ganz so kräftig wie im Sommer, erinnert mich an jenen Frühling, als ich das Studium antrat. Was ich nicht alles erwartete. Und auch, wie ich enttäuscht wurde, sodass ich mich entschloss, diesen Beruf nie auszuüben. - Die Antworten: Gott hat andere Wege bzw. meine Wege sind nicht eure Wege waren für mich billige, sinnlos dahergeplapperte Sprüche. Ich entsinne mich, wie ich im Laufe der Jahre den nagenden Gedanken bekämpfte: es ist alles ja gar nicht wahr. - Ich stellte fest, dass Menschen, die nicht unbedingt bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit das Wort "Gott" in den Mund nahmen - oder eigentlich nie erwähnten, dem Christentum viel näher waren - und auch entsprechend von Herzen handelten. - Ich entsinne mich der Erzählung "Demian" von Hermann Hesse, wo der Gott Abraxas vorkommt, der sowohl gut wie auch böse ist. - Im Laufe der Jahre konnte ich diese Ganzheitlichkeit in verschiedenen Aufzeichnungen aus früheren Kulturen entdecken; zum Beispiel bei Numa Pompilius, dem Philosophen von Keres und römischen König, bekannt wegen seiner Reformen. Er schreibt: "Zum Tag gehört die Nacht, zum Licht das Dunkel, zum Guten das Böse..." - Ich sehe das in Stein gehauene Lebensrad über dem Martinstor am B.-Münster. Zuoberst ist Christus; zu seiner Rechten fällt ein Mensch auf der Kreisbahn hinab, so tief, bis er genau unter Christus ist. Dann geht es wieder aufwärts. - aber eben: ich musste bei anderen Menschen und auch in meinem bisherigen Leben feststellen, dass es bisweilen einen Fall aus dem Kreis gibt, wo man gut und gerne ins Bodenlose fällt. Was geschieht dann? Auf diese Frage erhielt ich von niemandem eine Antwort. Die Suche nach dieser Frage wurde mir vielleicht, wenn ich meine jetzige Situation betrachte, zum Verhängnis. Die Unterwelt, die man bisweilen durchwandern muss, sie kann einen festhalten und verderben. Körperlich und seelisch, wobei sich die heikle Frage nach dem eigenen Verschulden stellt.

 

 

Annemarie K.

"Ich bin Annemarie K., Medizinstudentin im letzten Semester. Ich hätte nie gedacht, dass das Praktikum hier in der Psychiatrischen Klinik mir derart viel Substanz abfordern würde, Substanz, die ich lieber in meine Prüfungsvorbereitungen investiert hätte. Ich bin auf W.W. gestossen, ein Typ, bei dem ich nie so richtig weiss, woran ich mit ihm bin. - Manchmal scheint es mir, als ob er selbst nicht so recht klug aus sich würde. Heute scheint er die kritische Phase seines Entzuges durchzuleben. Wie lange dies dauert, ist nicht absehbar. - Vielleicht können uns die Kollegen vom "Suchtflügel" beraten. W.W. läuft unruhig durch Zimmer und Gänge. Man weiss nicht recht, was in ihm vor sich geht. Und äusserlich - man kann ihn kaum anschauen: feuerrotes Gesicht und durchsichtige, wächserne Blässe wechseln stetig. Wallungen. -

Er scheint aber von seinen Süchten loskommen zu wollen. Das hat mir auch Eva K., Gestalttherapeutin, gesagt. - Er habe mit zitternden Händen eine Lehmfigur erstellen wollen. Man habe gemerkt, dass diese Beschäftigung für ihn eine hochwillkommene Therapie war, um schrittchenweise über die Runden zu kommen. - Nur eines begreife ich nicht: warum kann er immer und immer wieder behaupten, seine Süchte seien die "logische" Folge von schwerwiegenderen, psychischen Problemen: Mutterbindung, Stillstand des Reifungsprozesses während der Pubertät. - Kollege H. hat recht, wenn er sagt, man müsse vorerst die Sucht bekämpfen; alle Äusserungen von W.W. seien durch die Folgen seiner Abhängigkeiten verfälscht. Seine Blutproben lassen auf einen äusserst schweren Alkohol- und Tablettenmissbrauch schliessen, der unter Umständen in den letzten Tagen fortgesetzt wurde. - Oder er muss unmittelbar vor seinem Eintritt hier eine extrem hohe Dosis an aethylenisierenden und narkotisierenden Mitteln zu sich genommen haben. - Eine Leberautopsie hätte Klarheit verschafft. - Aber er will ja nicht. - Oder ist etwa - Mein Gott, hat er etwa gar nicht in die Klinik kommen wollen? - Hat er möglicherweise eine lebensbedrohende Vergiftung vor seinem Eintritt überlebt? - Das beste für ihn wäre eine Entzugskur, im Suchtflügel, drei Monate lang. - Ich werde mit Chefarzt und Kollege H. sprechen. - Auf alle Fälle muss verhindert werden, dass W.W. in der nächsten Zeit das Klinikareal verlässt - Spazierengehen können wir ihm nicht verbieten, aber ein Aufenthalt ausserhalb dieser sicheren Mauern könnte nun alles wieder vermasseln.

 

Entzug, nachmittags (beim Salzteig-Kneten)

in mir brennt es lichertloh.
es brennt mein gestern, mein
heute, mein morgen brennt.

die kühle erde beruhigt
meine hände, meinen sinn -
die kühlen farben
besänftigen meine finger,
mein gemüt.

und doch brennt es in mir,
meine gedanken verbrennen,
alles, alles brennt in mir,
lichterloh. nicht so,
so nicht,

und ich verberge
mein angesicht.

 

Gegen Abend

Die Abendsonne wirft ihre letzten kräftigen Strahlen in den Gang. Er kommt mir wie ein Kreuzgang vor. Wie ein Kreuzgang in einem Kloster. Die weissen Wände werden von farbigen, ausdruchsstarken Mandalas belebt. Einer, der auch hier weilte, hat sie geschaffen, Adolf Wölfli - Ich wandle durch den Gang. - Die Türen seitlich kommen mir wie Zellen vor. Es sind die Büros von Oberpflegern, Werktherapie-Chefs, SozialarbeiterInnen. - Sie begeben sich nach Hause und schweben - so kommt es mir vor - an mir vorbei. Zwischen ihnen und mir liegen Welten - Im Gang wird es still. Das Sonnenlicht wird goldener. Vom einen der Mandalas werden die Strahlen wie von einem Spiegel an Boden und Wand geworfen. Es verleiht dem Kreuzgang eine andere, verklärende Dimension. - Ich denke an die Mandala-Theorien von Carl Gustav Jung. An seine Archetypen. Und wieder steigt in mir das Bild des Kreises, des Lebensrades am Münster in B. empor.

 

Vision

Ich denke: ein Weiterkommen ist nicht möglich. - Zumindest nicht dann, wenn man die Kreis-Allegorie akzeptiert. Bis vor nicht allzu langer Zeit betrachtete ich das Leben als einen Kreislauf, nicht so sehr im negativen Sinne, sondern vielmehr im Sinne des sich stetigen Wiederholens bestimmter Ereignisse und bestimmter Verhaltensweisen. Mich selbst betrachte ich als Kreisläufer, der noch und noch seine Runden dreht, aber immer wieder am Ausgangspunkt landet. - Die Sucht: ein "absurder Kreis". Drogenkonsum - Ruhe, Entspannung - Fantasien, Schlaf - Träume - Erwachen, Unbehagen - Schmerzen- Drogenkonsum - Ruhe, Entspannung -

Ich fasse ganz bewusst den Entschluss, einemal aus diesem Kreis herauszutreten, sowohl hinsichtlich meiner Sucht als auch hinsichtlich meines Lebens ganz allgemein. - Mich neben den Kreis zu stellen und diesen zu betrachten, so nüchtern wie möglich, um dann die Gerade oder die Spirale zu wählen.

 

Abendspaziergang

Isabelle und ich schlendern an den Blumenbeeten vor dem Haupteingang der Klinik vorbei. - "Napoleon" arbeitet in den Beeten. Er trägt heute eine Feuerwehruniform. Er grüsst freundlich. -

Isabelle hat rasende Kopfschmerzen. - Und doch, so scheint es mir, geht es ihr etwas besser. - Ihr Bruder hat sie soeben besucht. - Sie habe zugenommen. Um rund 10 kg. - Dies sei auf die Lithium-Therapie zurückzuführen, sage ich.

Isabelle kommt aus der Westschweiz. Sie hat Kindergärtnerin gelernt. - Während Jahren bekleidete sie eine Halbtagesstelle als Sozialarbeiterin in der Kirchgemeinde P. - Sie bezeichnet den sie behandelnden Assistenzarzt als "Anfänger", der sich jedoch grosse Mühe gebe. - Pfleger C.S., der "wandelnde Sprechautomat, der um theoretische, angelernte und formelhafte Sprüche nie verlegen ist", gehe ihr auf die Nerven. -

 

Nenufaroi (Seerosen)

Wir kommen am Teich vorbei. Die Eisenplastik "Schwan" von Luginbühl erinnert mich an glücklichere Tage, als dieses Kunstwerk neben anderen Skulpturen an der Plastikausstellung in Biel in der Bucht des Bielersees gezeigt wurde. -

Eine Feder stösst eine Eisenkugel über den starken und doch eleganten Arm einer Eisenkonstruktion; der halbkreisförmige Puffer des Eisenarmendes schickt die Kugel zurück zur Feder, die Feder spannt sich wieder langsam, um die Kugel erneut auf die Reise zu schicken. Der Eisenschwan spiegelt sich im stillen Wasser, ein vielsagendes, fantastisches Mandala. - Wir spazieren dem Waldrand entlang. Wir blicken von der sanften Anhöhe auf den Teich, den "Schwan" und den Gebäude-Komplex der Klinik. - Immer mehr Erinnerungen an die damalige Plastik-Ausstellung in Biel werden wach.

 

Aulos (Aeolsharfe)

Rückblick: Damals ging ich mit dem Fotoapparat an einem Samstag morgen durch die Plastik-Ausstellung. Man schrieb das Jahr 1968, so genau weiss ich es auch nicht mehr. Die seinerzeit neue Art der Plastiken faszinierte mich nicht wenig. Die gigantische bronzene Maske beim Kongresshaus, die zwischen dem gewölbten Dach und dem Hochhaus ins Unendliche blickte. Das Perpetuum mobile aus Holz, Stahl und Stein, das von Wasser bewegt wurde und an stilisierte, verdichtete Bewässerungskanäle im Wallis erinnerte. Oder die Windharfe mit ihren Stahlröhren, die sich im Wind sanft bewegten und eigenwillige Klänge von sich gaben. -

Ich ging allein durch Skulpturen, Plastiken, allein mit meinem Fotoapparat. - Heute und jetzt und für ganz kurze Zeit ist Isabelle an meiner Seite, eine junge, tapfere Frau, die trotz ihrem harten Schicksal den Weg geht, den sie für richtig hält. Die geheiratet hat. Die Mutter geworden ist. -

 

Elpis (Hoffnung)

Der "Eisenschwan", der auf den Teich ganz hinten am Ende des Klinikareals verbannt worden ist, ist kein "sterbender Schwan". Für mich ist es vielmehr ein "ruhender, schlafender Schwan", der nur darauf wartet, aufgeweckt zu werden.

 

 

(Fortsetzung folgt)

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